Bove

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Bove1928inBandol1928 in Bandol (Foto: Fonds Emmanuel Bove/IMEC)

 

Thomas Laux
Ganz viele Freunde – Neue Entdeckungen über Emmanuel Bove (1898–1945)

Über 70 Jahre nach seinem Tod motiviert und elektrisiert der französische Schriftsteller Emmanuel Bove eine wundersam weiter anwachsende Fangemeinde.

Wie oft ist diese Geschichte wohl schon erzählt worden? Als Chronist traut man sich kaum, die vielen verbürgten Konstanten zu wiederholen, die bei jeder Veröffentlichung oder Wiederveröffentlichung von Romanen und Erzählungen des jung verstorbenen und seit Langem als »Kultautor« geltenden Emmanuel Bove geradezu gebetsmühlenartig mit aufgetischt werden. Eine schriftstellerische Karriere, auf die nichts hinwies, nachdem der junge Bove (der eigentlich Bobovnikoff hieß) sich bis Anfang der 1920er-Jahre u. a. als Hilfsarbeiter, Kellner, Taxifahrer verdingte und sich der Literatur erst ganz vorsichtig annäherte, indem er unter dem Pseudonym Emmanuel Valois (dem Nachnamen seiner ersten Frau) kitschige Trivialromane verfasste, mit Titeln wie »Le cœur n’oublie pas« oder »Ame de poète«, sie erschienen Anfang der 1920er-Jahre für überschaubare 40 Centime im Pariser Verlag Ferenczi; Bove selbst hat sie später als unwürdig bezeichnet und sie mit seiner schlimmen materiellen Situation erklärt. Immerhin war mit diesen Herz-Schmerz-Romanen eine Art Startschuss getan, Colette wurde auf ihn aufmerksam, als er dem Pariser »Matin«, wo sie für den Literaturteil zuständig war, eine Erzählung schickte, die diesen Namen auch verdiente (»Le Crime d’une nuit«); hernach unterstützte sie auch seinen ersten genuinen Roman, »Mes amis« (1924).

Und dieser (deutsche Übersetzung: »Meine Freunde«, 1981) gilt für viele »Bovianer« – so nennt sich die Internationale seiner Anhänger – heute noch als Maß aller Dinge, gleichsam als Synonym für eine Schreibweise, bei der ein spezifischer Blick auf die Welt eine andere Wahrnehmung impliziert. In ihm wird das Marginale hervorgehoben, die kleinsten Details bekommen ein Mehr an Bedeutung, so als würden sie endlich ihres trostlosen Mauerblümchendaseins enthoben. Rilke lobte früh, aber Samuel Beckett war es, dessen Äußerung immer wieder zitiert wird: »Wie kein anderer hat Bove das Gespür für das berührende Detail.« Denn auch die verstecktesten Gefühle erhalten hier eine Tiefendimension, man ist geneigt zu sagen: eine Metaphysik, die ihnen ansonsten, anderswo im weiten Literaturland, anscheinend so nicht zugestanden wurde. Diese Einschätzung gilt nun vornehmlich für den frühen Bove, wo, neben »Mes amis«, mit Einschränkungen noch sein zweiter Roman »Armand« (1925) zuzuzählen wäre; Boves Écriture indes verändert sich fortan und über die weiteren Jahre recht deutlich, man erkennt eine literarische Entwicklung zur Bedeutungsschwere, die vormalig attestierte Feinheit (sowie eine gewisse Schlichtheit im Erzählduktus) passt sich mehr und mehr den persönlichen Bedingungen an; alles gerät, in einem Wort, existenzieller.

Schreiben, um zu überleben

Erst vor Kurzem ging in Darmstadt eine Ausstellung zu Ende, die u. a. mit seltenen, nie öffentlich gezeigten Exponaten zu Emmanuel Bove und vier neu entdeckten Erzählungen aus den 1930er-Jahren aufwarten konnte. Ähnliches war bislang nicht einmal in seinem französischen Stammland angedacht, geschweige zuwege gebracht worden, die deutschen Aficionados scheinen da aufgeweckter zu sein, was zum Beispiel auch an der 21-bändigen E-Book- Ausgabe zu Bove in der Edition diá in Berlin abzulesen ist.

Interessant auch dies: Der Düsseldorfer Künstler Armin Hartenstein hat unter dem Titel »Mes amis de Emmanuel Bove« (sic!) zwar keine thematische oder inhaltliche, dafür eine assoziative Verbindung zu konkret diesem Roman in seinen Kleinplastiken und Bildobjekten angelegt, die bislang 160 Einzelexponate verstehen sich als freie Verknüpfungen, die den Betrachter herausfordern (sollen).

Dieser ganze »Hype« um Boves Person und Werk, dieses aufblühende Leben post mortem, hätte dieser sich wohl nicht ansatzweise vorstellen können. Dafür war sein Überlebenskampf von Anfang an einfach zu dominant, die privaten wie ökonomischen Unsicherheiten zu immens, garantiert waren nur die finanziellen Engpässe, viele Umzüge standen einzig aus diesem einen Grund an, das ging dann von Paris nach Compiègne und wieder zurück, nach Cap Ferret, nach Bandol, früh sogar, wegen des seinerzeit günstigen Wechselkurses, nach Österreich. An dieser Situation änderte auch der 1928 erst- und einmalig vergebene und mit 50 000 damaligen Franc dotierte Prix Figuière an ihn nichts. Die heikle Lage schlug sich zwangsläufig produktionsästhetisch nieder, sein Roman »La Coalition«, 1928, (»Die Verbündeten« in der deutschen Übersetzung) verhandelt genau diese materielle Misere und die damit verbundenen psychologischen Nöte.

Die späten 1920-er Jahre bilden Boves produktivste Zeit, allein in den Jahren 1927/28 veröffentlicht er Romane und Erzählungen wie am Fließband. Schon bald aber gerät diese »Schreib-Maschine« ins Stocken, nicht zuletzt wegen zunehmender gesundheitlicher Probleme, Emmanuel Bove leidet ab den 1930er-Jahren an einer hartnäckigen Erkrankung der Atemwege, die ihm langfristig zusetzt und auch Auswirkung auf sein Schreiben hat; sein Roman »Le pressentiment«, 1935 (»Die Ahnung«), thematisiert einen Rückzug aus der Gesellschaft und letztlich auch aus dem Leben. Seine Hauptfigur Charles Benesteau, ein gerade mal 50-jähriger Anwalt, zieht sich inmitten von Paris beruflich zurück, wechselt in ein bescheideneres »Quartier«, um fortan nur noch seine Ruhe zu haben; genau die aber wird ihm nicht gegönnt, in einer latent feindlichen Umgebung, die vor allem um sich selbst kreist, kann er nicht mehr heimisch werden.

Starkes Spätwerk und zwei Verfilmungen

Dass eine bestimmte Bove-Gemeinde vor allem in Deutschland ihn immer wieder auf die eine (»Mes amis«-)Schreibweise festzulegen geneigt ist, dürfte vor allem auch für deren Vorliebe für die ersten drei deutschen Übersetzungen von Peter Handke geschuldet sein – die im Übrigen wegen einiger Austriazismen und Freiheiten in der Übertragung nicht unumstritten sind. Es gibt, wie erwähnt, bei Bove mehrere Schreibweisen; dies zu ignorieren würde dem Gesamtwerk nicht gerecht. Das belegen hinreichend gerade die späten Romane, die erstaunlich komplex ausfallen, allen voran der Roman »Le Piège«, 1945 (deutscher Titel: »Die Falle«, 1996). Man trifft auf eine typische Bove-Figur mit dieser eigentümlichen psychischen Gemengelage, in der sich Unsicherheit mit Selbstüberschätzung paart – Joseph Bridet, der die komplizierten, oft obskuren Zusammenhänge von Kollaboration und Bürokratie nicht durchschaut. Mit seinen politisch lavierenden Äußerungen erregt er den Verdacht gleich aller Lager, bis er schließlich gänzlich den Überblick verliert und am Ende sogar erschossen wird. Vielleicht ist dies Boves Meisterwerk. »Le Piège« ist auch einer von bislang zwei verfilmten Romanen; Serge Moati realisierte den Film 1991 mit einem französischen Staraufgebot (André Dussollier, Grace de Capitani, Pierre Dux, Michel Aumont). Dieser werkgetreue und feinsinnig inszenierte Film gelangte aber lediglich ins französische Fernsehen, wurde dort auch mehrfach wiederholt, auf die andere Seite des Rheins schaffte er es hingegen nicht, selbst eine DVD-Version ist bis heute nicht verfügbar.

Die andere Verfilmung, »Le pressentiment«, erschien 2006 mit Jean-Pierre Darroussin als Regisseur und in der Hauptrolle, doch der Streifen blieb weit hinter seinen Möglichkeiten zurück, nicht zuletzt, weil die Handlung in ein heutiges, modernes Paris verlegt ist, womit dem Roman nicht nur der Charme, sondern gleich auch die ganze Seele genommen ist. Boves Texte spiegeln die Zeit, in der sie entstanden sind, sie lassen sich filmisch nicht ohne Weiteres in die Gegenwart transportieren. Diese längst versunkene Zeit, auch dieses damalige, eigentümliche Frankreich, lässt sich in den Romanen und Erzählungen Emmanuel Boves indes wunderbar nacherleben.
 

Erstveröffentlichung in »Dokumente/Documents. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog« 3/2017

Thomas Laux, geboren 1955 in Düsseldorf. Studium der Germanistik und Romanistik, Staatsexamen, Promotion 1987 in Romanistik. Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen (u. a. neun Bücher von Bove, Henri Thomas, Hervé Guibert, Jacques Chauviré).
 

Harald Wieser
Ich sehe, also bin ich: allein – Der Franzose Emmanuel Bove

Als Samuel Beckett einmal gefragt wurde, welchen Schriftsteller er besonders zu lesen empfehle, antwortete er: Emmanuel Bove. Aber der von Madame Colette entdeckte und von Rilke andächtig verehrte französische Romancier (1898–1945) ist ein Nebelmann geblieben. Peter Handke hat Boves Romane »Meine Freunde« und »Armand« ins Deutsche übertragen: groteske Szenen mit traurigen Helden.

»Meine Aufmerksamkeit war wie jene der Kinder: Sie richtete sich auf alles, was sich bewegte.«
Emmanuel Bove, »Armand«

Am 13. Juli 1945 stellt Docteur Louis Pictet in der Pariser Avenue des Ternes, Haus Nummer 59, einen Totenschein aus: »Monsieur Emmanuel Bove verstarb heute Morgen gegen 8 Uhr an Auszehrung und Herzversagen, das durch eine Serie äußerst heftiger Sumpffieberanfälle herbeigeführt wurde.« Der Tote ist 47 Jahre alt und wird auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt, in der Familiengruft seiner zweiten Ehefrau, der Künstlerin Louise Ottensooser; unweit der Cafés von St.-Germain-des-Prés, in denen er einige seiner mehr als 20 Romane schrieb. Die meisten Literaturlexika, auch die französischen, verschweigen dieses Werk. Noch unbekannter ist Boves Leben. »Was ist das für ein Autor?«, fragte sich ein deutscher Kritiker bei der Vorstellung des Romans »Meine Freunde« und resignierte: »Man weiß es nicht.«

Die Suche nach Spuren seines Lebens führt über vergilbte Zeugnisse und entlegene Notizen. Zu diesen Raritäten gehört eine Erinnerung des italienischen Journalisten Enrico Terracini: »Bove lebte (in der Zeit vor seinem Tod) wie im Dämmerzustand. Manchmal hielt er sich plötzlich eine Hand vor sein Gesicht. Nicht so sehr, weil er herzzerreißend husten musste, sondern weil er sein Gesicht, das sich wegen der Schmerzen zu einer Grimasse verzog, vor neugierigen Blicken verbergen wollte. Wenn man ihn auf der Straße traf, immer blass und mager, beschlich einen nicht selten das Gefühl, dass er den nächsten Tag nicht überleben würde. Er zog sich häufig in ein Hospital zurück, aber über seine Leiden sprach er nie.«

Film zurück, Paris 1924. Emmanuel Bove, 26 Jahre, Sohn des vor der Polizei des Zaren nach Frankreich geflohenen russischen Anarchisten Emmanuel Bobownikow und der Luxemburgerin Rosalie Henriette Michels, Gymnasiast in Genf, College-Schüler im englischen Southend, Soldat der französischen Armee in Österreich, Bistrokellner und Straßenbahnschaffner, inzwischen mit einer Lehrerin verheiratet und Vater von zwei Kindern, geht schreibend seiner einzigen Leidenschaft nach und hat zum ersten Mal Glück: Eine kleine Zeitschrift veröffentlicht seine Weihnachtsnovelle »Nuit de Noël«.

Die Novelle ist gerade erschienen, da bekommt der schüchterne Mann Post von einer einflussreichen Leserin. Sidonie-Gabrielle Colette, ehedem Tänzerin und Chansonette, nun die große Dame der französischen Literatur, ermuntert den unbekannten Autor, für eine von ihr im Ferenczi-Verlag herausgegebene Reihe ein ganzes Buch zu schreiben. Emmanuel Bove dient dem Verlag ein drei Jahre altes Manuskript an: Der Roman »Mes Amis«, der die einsamen Tage des aus dem Ersten Weltkrieg mit einer Tapferkeitsmedaille und einer verstümmelten Hand zurückgekehrten Junggesellen Victor Bâton erzählt, wird noch im selben Jahr gedruckt.

Monsieur Bâton (zu Deutsch: Herr Stock) bewohnt ein bei Regen kaltes Zimmer im Paris der armen Leute: im Milieu der Restaurants, in denen die Gäste ihre Speisen selber mitbringen können. Er ist wahrscheinlich sehr jung, aber seine pedantisch gepflegten Ängste sind die eines Greises: Bâton trägt stets einen Hut, schläft des Herzens wegen auf der rechten Seite und achtet dabei darauf, dass »das Ohr ordentlich anliegt, dass es nicht umgebogen ist«. In der linken Tasche seines Überziehers pflegt er ein Taschentuch, Schlüssel und das alte Soldbuch mitzuführen, damit »das Gewicht dieser Dinge« seine schiefen Schultern ausgleicht. Er hätte wohl gerne eine Arbeit, befürchtet aber, sich »einen Bruch« zu heben. Auf »Fleisch, Kino, Wollzeug« verzichtet er. Die Boulevards überquert er nur, »wenn ein Wachmann den Verkehr stoppt«.

Jeden Morgen treibt Bâton die immergleiche Sehnsucht aus der Kammer. Er begibt sich, vorbei an einer mürrischen Concierge, auf die Straße und sucht einen Freund. »Wie feinfühlig ginge ich um mit dem Menschen, der mir Freundschaft erwiese. Niemals würde ich ihn verärgern. All seine Wünsche wären die meinen. Ich würde ihm überallhin folgen wie ein Hund.« Der arme Teufel begegnet der Schlampe Lucie, dem Schnorrer Billard, dem lebensmüden Matrosen Neveu, dem hochfahrend-barmherzigen Industriellen Lacaze, der Nachtklub-Sängerin Blanche. Aber zu Freunden gewinnt er sie nicht. »In meinen Augenwinkeln eingetrocknete Tränen.«

Der 1921 in Tulln* bei Wien verfasste und von Peter Handke 60 Jahre später mit faszinierend genauem Gespür für seine Atmosphäre ins Deutsche übertragene Roman ist Boves erstes Buch, das er unter eigenem Namen riskiert. Aber wie er später in einem Interview verrät, hat er sich, unter dem Pseudonym Jean Vallois (dem Mädchennamen seiner ersten Frau), schon zuvor mit dem Schreiben von Büchern durchgeschlagen. Mit schneller Ware, die er, einen miesen Verleger und die nächste Monatsmiete im Nacken, nach einem peinlich genau eingehaltenen Zeitplan produzierte: »100 Zeilen pro Stunde, also 800 Zeilen pro Tag, das heißt: ein Buch in 10 bis 12 Tagen.« Diese Fließbandarbeit für den Groschenmarkt, die sich für den gewissenhaften Bove »von der Arbeit des Schriftstellers rigoros unterscheidet«, ist mit »Mes Amis« zu Ende.

* In Tulln ließ sich Bove mit seiner ersten Frau Suzanne Vallois nach dem Ersten Weltkrieg nieder, nachdem er – als Mitglied der französischen Besatzerarmee – seinen regulären Militärdienst in Österreich beendet hatte. 1923 kehrte er nach Frankreich zurück. 1930, im Jahr der Scheidung von Suzanne Vallois, heiratete er Louise Ottensooser.

Denn der Erstling ist ein Erfolg. Der Boulevardtheater-Star und spätere Filmregisseur Sacha Guitry widmet ihm in der Zeitschrift »Candide« eine enthusiastische Besprechung. Andere Kritiker sehen in »Mes Amis« die psychologische Raffinesse der Romane Julien Greens am Werk und schlagen den Autor für den begehrten »Prix Fémina« vor. Rainer Maria Rilke trifft Bove in der Wohnung von Maurice Betz, dem französischen Übersetzer des »Malte Laurids Brigge«, und ist von der literarischen Kunst des Debütanten so überzeugt, dass er (ge)lobt: »Ich trachte immer, ihm zu folgen.« Und als Samuel Beckett 1950 gefragt wird, welchen Schriftsteller er am nachdrücklichsten zu lesen empfehle, antwortet er: »Emmanuel Bove; wie niemand sonst verfügt er über das treffende Detail.«

Tatsächlich ist Victor Bâton ein Detektiv der scheinbar nebensächlichen Kleinigkeiten, wie er in der Literatur so noch nicht zu besichtigen war. Mit Bâton hat Bove einen Helden erfunden, der sich wie auf Stelzen durch die Stadt bewegt und an dem förmlich alles wie gelähmt wirkt: Nur die Augen sind unentwegt im Dienst! Aber diese Augen tasten, was ihnen auffällt, nicht etwa sinnesfroh und genießerisch ab, sie »messen« Menschen und Dinge »wie ein Geometer«. Ganz gleich, ob Bâton sich die Nase an den Scheiben schäbiger Verkaufsläden platt drückt, schon beinahe wagemutig eine Badeanstalt betritt oder, kaum überbietbar ungelenk, einem Mädchen den Hof macht – dem Marionettenmann entgeht weder der Kopfkissenbezug, der »in der Mitte dunkel« ist, noch »der Eigelbfleck« auf dem Petroleumkocher.

Es ist daher durchaus möglich, dass Beckett sein (viel zitiertes) Kompliment mit einem gewissen ironischen Hintersinn ausgesprochen hat. Denn die (Selbst-)Beobachtungsmanie des Ich-Erzählers Victor Bâton fördert das »treffende Detail« nicht nur in Stimmungsbildern zutage, die eine empfindsame Seele verraten: Der Industrielle »schaute auf eine goldene Uhr mit schlanken Zeigern, die die Minuten gleich wichtig erscheinen ließen wie die Stunden«. – »Die Straße, stark bevölkert, erschien unscharf, wie wenn man durch jemandes Brillengläser blickt ... ähnelte der eines Traums.« – »Eine leere Tramway kam ... Die Glühbirnen ... hatten die Traurigkeit von Lichtern, die man vor dem Einschlafen vergessen hat auszuschalten.«

Diese Manie fördert auch Kleinkram zutage, dessen Erwähnung so grotesk anmutet, dass sich das traurige Buch streckenweise wie eine unfreiwillige Humoreske liest. Der Leser wird zum Hampelmann seiner eigenen Gefühle, weiß nicht mehr, ob er weinen oder lachen soll: »Ich seifte mich ein mit einer kleinen, unsinkbaren Seife.« – »Zuerst ziehe ich mir die Socken an ... Mich an einem Stuhl festhaltend, steige ich in die Hose.« – »Da ich mir einbildete, sie würde sich, wenn sie ihre Nägel gefeilt hätte, mir zuwenden, zählte ich die Finger, die noch nicht drangekommen waren.« – »Regentropfen fielen, niemals einer auf den anderen.« Aber Bâton ist keine Witzfigur. Er ist ein Flaneur von einer Steifheit, deren schockierende Komik der Autor Bove gern hinter dem Komma belichtet: »Wir küssten einander lange, barhäuptig.«

Der Erfolg seines Erstlings – 1926 wird dem Autor der Prix Figuière verliehen – spornt Emmanuel Bove an, »wie ein Besessener« weiterzuarbeiten. Dies hat in »Vingt Mille et un jour« 1981 der Surrealist Philippe Soupault mitgeteilt, einer der wenigen noch lebenden Zeitgenossen aus dem Kreis um Breton und Aragon, die Bove persönlich gekannt haben. So bewahrte Bove bereits im österreichischen Tulln neben »Mes Amis« das Manuskript »La Coalition« und sieben Erzählungen (»Die Geschichte eines Verrückten«, »Die Rückkehr des Kindes«) in der Schublade auf, denen er später den Titel »Henri Duchemin et ses ombres« gab.

In den Jahren danach entstehen etwa 20 weitere Arbeiten: unter anderem die Beschreibung des Pariser Vororts »Bécon-les-Bruyères« (1927), das Wintertagebuch »Journal ecrit en hiver« (1930) und 1935 »Le Pressentiment« (Die Ahnung). Bove arbeitet an Zeitschriften wie den »Cahiers antiracistes« und »Marianne« mit, einer Wochenschrift der Volksfront Léon Blums, veröffentlicht den Kriminalroman »La toque (Die Mütze) de Breitschwanz«, skizziert diverse, allerdings nie abgeschlossene Theaterstücke und übersetzt Geschichten von Leo Tolstoi und Charles Dickens.

Im März 1940 wird er wieder zum Militärdienst eingezogen, aber bereits nach vier Monaten entlassen, weil ihn die schwere Arbeit in einer für die Kriegsproduktion tätigen Gießerei körperlich überfordert. Um sich neuen Dienstverpflichtungen zu entziehen, versteckt er sich in der Gegend um Lyon, in Dieulefit und Cheylard. Er ist weiterhin Schriftsteller, weigert sich trotz der Bitten seiner Freunde aber strikt, seine Bücher im von den Deutschen besetzten Frankreich zu veröffentlichen. Eine Woche vor der Landung der Alliierten erreicht er mit seiner Frau Louise Algier, wo er 1942 zum Kreis um André Gide, Saint-Exupéry und den Maler Albert Marquet gehört, sich im »Comité National des Ecrivains« engagiert und seine drei letzten Romane schreibt: »Le Piège« (Die Falle), »Non-lieu« (Verfahrenseinstellung) und »Depart dans la nuit« (Abfahrt in der Nacht). Eines dieser Bücher widmet er dem General de Gaulle.

Aber ungeachtet seines Fleißes und seiner noblen Fürsprecher ist Emmanuel Bove ein Nebelmann geblieben: ein berühmter Romancier, den kaum jemand kennt. Als beispielsweise »Le Monde« Boves Wiederentdeckung 1977 mit einer wahren Hymne feierte (»Dieser Schriftsteller taucht unversehens wieder auf, mit einer Lebenskraft für die Ewigkeit«), gab die Zeitung sein Todesjahr mit 1947 an. Und auch Peter Handke hat im Nachwort zu »Meine Freunde« noch den – seitdem immer neu abgeschriebenen – Irrtum verbreitet, Bove sei in Algier gestorben. In Wirklichkeit ist er, todkrank, im Oktober 1944 nach Paris zurückgekehrt. Dies bestätigt ein freundlicher Brief, den Handke nach dem Erscheinen seiner Übersetzung von einer Tochter Boves erhalten hat.

Emmanuel Bove selbst, der laut einer Tagebucheintragung 1936 beschloss, einmal jährlich die Bibel zu lesen und einer zu ihm passenden Legende nach besonders an einem Buch mit dem Titel »De la modestie« (Über die Bescheidenheit) hing, hat die Rätsel um seine Person vermutlich gewollt. Soupault nennt ihn den »schweigsamsten Schriftsteller, den ich gekannt habe«, und erinnert sich, dass auch Colette ihm bei einem Frühstück, zu dem ebenfalls Bove eingeladen war, gesagt hat: »Ihr Freund ist ja alles andere als redselig.« In dieses Bild fügt sich die Anekdote ein, dass Bove, als er 1927 um Daten zu seiner Biografie gebeten wird, nur eine nebulöse Schreibmaschinenseite zu Papier bringt:

Ich gestehe, dass mein Problem hier ein bisschen jenes des Schauspielers ist, der plötzlich den Text seiner Rolle vergessen hat ... Die Frage, die Lucien Kra mir stellt, übersteigt aus tausend Gründen meine Kräfte; der vorherrschende ist eine Scham, welche mich daran hindert, von mir selber zu sprechen ... Wer könnte im Übrigen dem Vergnügen widerstehen, seinen Lebenslauf mit großen Ereignissen und Albernheiten zu füllen: etwa von der Lust zu schreiben im Alter von acht Jahren, einer unverstandenen Jugend, einer blendenden oder mittelmäßigen Schullaufbahn, Selbstmordversuchen; von einer Glanzleistung im Krieg, einer fast tödlichen Verwundung, einer Verurteilung zum Tode in einem Kriegsgefangenenlager und der Begnadigung am Vorabend der Hinrichtung. Am weisesten, so glaube ich, ist es, gar nicht erst anzufangen.

Menschen erkennt man, das hält der Polizist so wie der Liebende, auch an ihren Gesichtern. Der Kunsthistoriker Jean Cassou erinnert sich, dass Emmanuel Bove ein »schweres, ruhiges Gesicht« hatte, in dem oft ein »maliziöses Lächeln« erschien, »von einer tiefen und selbstsicheren Malice«. Aber der zurückgezogen lebende Bove verbarg dieses Gesicht hinter seinen Büchern, in denen meist ebenso gesichtsscheue Helden agieren. Sein Victor Bâton ist die literarische Personifikation eines abgewandelten philosophischen Credos: Ich sehe, also bin ich! Nur ist es ein Sehen im Chamois-Ton der Fotografien jener Zeit: pedantisch milieugenau, aber ohne Sinn für die Erotik menschlicher Naturen. Bâtons Einsamkeit lässt sich darum nur im Spiegel der »Dinge« und Charaktere ermessen, die der Allesseher auf seinen Spaziergängen alle nicht sieht.

Wenn er dem Matrosen Neveu begegnet, fallen ihm der »stocksteife Rumpf«, der »Zigarettenkrümel im Schnurrbart«, die »verrostete Erkennungsmarke am Handgelenk« auf. Am Industriellen Lacaze, der »die Beine unter dem Schreibtisch gekreuzt hatte«, erspäht er wesentlich die neue Schuhsohle, »gerade in der Mitte ein bisschen hell geschliffen«. Und sein Pensionsnachbar Lecoin scheint nur aus Bewegungen der Arme zu bestehen: »Er hat zwei Töchter. Wenn er sie schlägt, dann mit bloßen Händen, zu ihrem Wohl ... Ihre Hutbänder sind aus Gummi.« Das Futter eines Mantels, die Kniekehlen, das unter den Achseln durchgeschwitzte Hemd: Sie machen die Physiognomie der Menschen aus.

Gesichter nimmt Bâton dagegen kaum wahr. Unter dem Mikroskop seiner Pupillen verwandeln sich Paris und die Welt vielmehr in ein Holzpuppen-Kabinett, in dem Paare und Passanten nicht anders beschrieben werden als Tischbeine, Kleiderhaken, Laternen. Auf diese Weise wird der Leser Bildern einer bilderlosen Stadt konfrontiert, in der es keine Farben und Geräusche nur als lästige Störenfriede gibt. Denn genauso wie die Augen arbeiten die Ohren Bâtons. Sein Gehör registriert zwar das Knacken der Sprungfeder im nächstbesten Fauteuil, aber für Musik beispielsweise ist er taub. Bâton führt durch eine Welt, in der das Grammofon etwa so romantisch wie die Ladenkasse klingt.

Rilke hat für diese Mathematik der Sinne, nach der Lektüre von Boves Kurzgeschichte »Visite d’un soir« (Besuch am Abend) eine schöne Metapher gefunden: »In meiner Jugend hatte man noch die Gewohnheit, sich die Handschuhe nach Maß machen zu lassen; die Hand dem Handschuhmacher hinzuhalten war eine sehr sonderbare Empfindung. Bei der Lektüre des neuesten Buches von Bove ist mir diese ganze Erinnerung wiedergekommen, das körperliche Gefühl der den Berechnungen ausgesetzten Finger inbegriffen.«

Der arme Victor Bâton hat die Mathematik seiner Sinne zu einem Instrument des Überlebens perfektioniert. Die Menschen und Dinge bedrohen ihn. Also betäubt er seine Ängste vor dem Goliath ihrer Macht, indem er sich ihrer mittels nüchterner Vivisektionen entledigt. Dabei gelingen seinem Autor Studien des kleinen und alltäglichen Sozialtheaters, die entwaffnend ehrlich sind: entwaffnend auch für den Leser, der sich diese Wahrheiten als Literatur von der Seele zu halten versucht. Doch das gespenstische Talent des Flaneurs ist auch seine Tragik.

Bâton hat nämlich keine Ahnung, dass seine zwanghaften Beobachtungen hoffnungslos sabotieren, was er sich sehnlichst wünscht. Als ihm etwa wider alles Erwarten das Kunststück gelingt, mit Blanche, der Tingeltangel-Sängerin, ins Bett zu steigen, glaubt man einen Augenblick lang, nun winke ihm endlich Glück. Aber bereits am nächsten Morgen fährt dem gnadenlosen Späher der Schock in die Knochen. Nicht genug, dass die Nasenlöcher der Geliebten glänzen. Auch »die beiden Lippen, voneinander getrennt, schienen nicht zum selben Mund zu gehören«. Auf der Stelle sehnte »ich mich nach meinem Bett«. Bâton sieht Blanche nie wieder.

Un génie de la médiocrité: Einen Meister des Mittelmaßes hat eine belgische Zeitung Boves Geschöpf genannt. Denn Bâton ist auch ein fanatischer Untertan, ein französischer Diederich Heßling der niederen Klassen. Mit jedem Atemzug will er »einen guten Eindruck« machen. Diese Sorge verwandelt ihn auf seinen Spaziergängen gänzlich in eine Marionette fremder Erwartungen. Wenn er nicht weiß, ob er zur Audienz beim Industriellen Lacaze, der ihn auf dem Bahnhof aufgegabelt hat und für einen »interessanten Fall« hält, den »armseligen« oder »sonntäglichen« Anzug vorführen soll, leitet ihn nicht etwa die eigene Laune, sondern allein der vermutete Geschmack des wohlsituierten Mannes.

Bâton hat ein »großes Herz«. Aber vor lauter Furcht, bei einer für ihn ungünstigen Unregelmäßigkeit ertappt zu werden, tritt er die Wünsche seines Herzens an die Konvention ab – und verlangt diese Selbstverleugnung ebenso von anderen. Als er mit dem Matrosen Neveu ein Bordell betritt, ist er im Innern entsetzt, dass Neveu, »statt Bescheidenheit zu zeigen, wie es sich gehört, wenn man nicht reich ist«, die Mütze auf dem Kopf behält und eine herausfordernde Miene zur Schau trägt. Und im Restaurant ist er ganz auf den nervösen Gedanken konzentriert, dass, da Armut »höflich« zu machen habe, der Weinspiegel akkuraterweise bei dem Tischnachbarn schneller sinken müsse, der ein paar Franc mehr in der Tasche hat.

Botmäßig nämlich bis zur Clownerie exekutiert der Untertan die Prestige-Gesetze der Konkurrenzkultur. Dabei kommt es zu Szenen, die das mitleiderregende Opfer immer wieder in der Rolle des von Missgunst getriebenen Täters zeigen. Eifersüchtig etwa argwöhnt er, ob der Schnorrer Billard wohl eine Freundin habe, die den Marktwert seiner Zuneigung für den neuen Bekannten möglicherweise senken könnte. Aber dann »hatte ich Lust zu lachen, zu tanzen, zu singen«. Denn Billards Freundin ist hässlich und hinkt. – Trotz dieser guten Aussichten jedoch bleibt Bâton allein. Mit dem Traum vom Leben eines reichen Herrn, der vielleicht zur auf naive Weise schönsten Utopie gehört, die von einem Erwachsenen in der Literatur erträumt worden ist. Sie mit anderen als den Worten des Autors wiederzugeben, täte ihr Gewalt an:

Ah! Wie möchte ich reich sein! Der Pelzkragen meines Überziehers riefe Bewunderung hervor, besonders in den Vorstädten … Meine Brieftasche befände sich in der hinteren, der »Revolver«-Tasche, wie bei den Amerikanern. Wenn ich auf die Uhr schaute, gäbe mir ein Armband die Gelegenheit zu einer eleganten Geste … Ich hätte eine Maîtresse, eine Schauspielerin … Um uns den Weg frei zu machen, würde der Kellner die Rundtischchen wegrollen wie Fässer … Wir würden speisen in einem Restaurant, wo es Tischtücher gibt und Blumen mit verschieden langen Stängeln. Sie würde vorangehen. Geputzte Spiegel würden meine Silhouette verhundertfachen wie eine Legion von Gaslampen. Wenn der Maitre d’hôtel sich zu unserer Begrüßung verneigte, würde sich seine Hemdbrust wölben, vom Bauch bis zum Kragen. Der Sologeiger würde rückwärtsgehen … Haarsträhnen würden ihm über die Augen hängen, als käme er gerade aus einem Bad. Im Theater hätten wir eine Loge für uns … Der ganze Saal würde uns beobachten, mit Operngläsern … Danach liefe eine Tänzerin herbei, auf den Zehenspitzen. Die gelben, roten und grünen Lichter des Scheinwerfers, die sie verfolgten, würden immer leicht von ihr wegrutschen wie die Farben auf den billigen Druckbogen. Am Morgen begäben wir uns in den Bois, per Taxi. Die Ellbogen des Chauffeurs würden hin und her rucken … Ohne einen Blick auf den Zähler würde ich bezahlen. Die Tür ließe ich offen … Meine Wäsche duftete nach Bügeleisen. Zwei geöffnete Knöpfe an meinem Gilet gäben mir etwas Lässiges. Meine Maîtresse träfe ein um drei Uhr. Ich nähme ihr den Hut ab. Wir nähmen Platz auf einem Sofa. Ich küsste ihre Hände, ihren Ellbogen, ihre Schultern. Hernach: die Liebe!

In Boves Original lautet der letzte Satz: »Ensuite, ce serait l’amour.« Peter Handkes deutsche Übertragung dieser Winzigkeit ist ein Beispiel für seine Übersetzer-Sensibilität: angefangen vom zärtlich-lapidaren Wienerwort »Hernach«, für das es eine schuldeutsche Entsprechung nicht gibt, bis hin zum Ausrufezeichen hinter dem Wörtchen »Liebe!«, das bei Bove im Französischen fehlen konnte, weil es bereits der Rhythmus der Sprache enthält. Aber wie dem auch sei, nur mit dieser Übersetzung kommt der Bove’sche Bâton naturgetreu zu Wort: diese fatale Mischung aus verträumtem Kindskopf, bürokratischer Seele und leidenschaftsloser Kleinbürgerei in einer Person.

Am 25. Oktober 1936 schreibt Bove in sein Tagebuch: »Habe über meinen nächsten Roman nachgedacht. Seltsam: Ich kenne bereits alles, nur das Thema nicht. Es gibt nichts Blockierenderes als diese ewige Suche nach einem handlungsfähigen Thema. Jean Fayard hat mich vorgestern besucht. Er sagt: Man muss zunächst ein gutes Thema haben. Schauen Sie sich die Russen an, Bove. Ich bin überhaupt nicht seiner Meinung. Es ist der Ton, der die Größe der Russen ausmacht. Die Themen der französischen Feuilletonisten sind genauso großartig wie die Themen Dostojewskis.«

Im Roman »Meine Freunde« hat Bove einen Gefühlsbeamten vorgeführt, der in seinem Buch »Armand« (1925) nahezu abziehbildhaft wiederkehrt. Armand ist Bâton in neuem Kostüm. Die Träume, die für den traurigen Victor bloße Kopfgeburten waren – sein literarischer Nachfahre hat sie sich im Miniaturformat erfüllt. Armand lebt seit zwölf Monaten in bescheidenem Wohlstand, ist seinen »schüchternen Manieren« entkommen und erfreut sich der Zuneigung einer Frau, mit der er sogar eine Wohnung teilt, deren Luxus in einer zur Badewanne umgerüsteten Abstellkammer besteht. Ansonsten ist er ganz der Alte geblieben. Dem »kleinsten von seinem Platz verrückten Gegenstand« sieht er »die Zeichen irgendeiner Machenschaft« an. Fantastisch seelenruhig macht er sich Gedanken darüber, ob er bei seinem Gegenüber »einen konvexen oder konkaven Nabel« vermuten soll, »je nach der Fertigkeit der Hebamme«. Und so treu, wie Bâton seinen imaginären Freunden zu folgen trachtete, so ergeben ist Armand seiner Freundin Jeanne: »Ich überlegte, ein Kleid Jeannes anzuziehen. Sie wollte, dass ich mich gäbe wie eine Frau. Aber es war zu kalt.«

Auch die kleine Welt, in der Armand sich bewegt, ist eine Welt der Rituale, aus der unbedachte Regungen verbannt sind. Zwar sieht Armand an den Menschen auch manches Mal Gesichter, aber selbst während intimer Situationen sind sie durch Taktiken und verletzende Förmlichkeiten voneinander getrennt. Nur vier Personen bevölkern das Buch. Doch das mühsam gewonnene Vertrauen zwischen ihnen ist so zerbrechlich, dass jede zu selbstbewusste Handlung es gefährdet: »Plötzlich klopfte es. Das musste Lucien sein: Er wagte nicht zu läuten.«

So wird aus dem Glückspilz Armand im Handumdrehen ein »Lump«, als er die Schwester seines alten Kumpans Lucien besucht und sie mit einem Kuss verwirrt. Eine flüchtige Zärtlichkeit, die, seitenlang beinahe ohne ein gesprochenes Wort, zur Katastrophe führt: Jeanne setzt Armand vor die Tür. Auf der Straße nimmt er vom Glück und den Lesern mit einer Beobachtung Abschied, die den neurotischen Menschenfreund und liebenswerten Pedanten in einem schönen Bild vereint: »Ich nahm dann die Straße, die abwärtsführte. Kinder spielten da Ball, die kleineren weiter oben, die größeren weiter unten, damit beide die gleichen Chancen hätten.«

In Frankreich ist darüber spekuliert worden, ob »Meine Freunde« und »Armand« autobiografische Romane seien. Sie sind wohl nicht Autobiografien des auf Daten fixierbaren Lebens von Bove. Aber sie sind Spiegelungen seiner von Jugend an gekannten Heimatlosigkeit und seiner mit dem materiellen Auskommen wechselnden Gemütszustände. Hinter dem traurigen Bâton hält sich der »arme« Bove versteckt, im vergleichsweise fröhlichen Armand gibt sich der eine Zeit lang »reiche« Bove zu erkennen. Zu siamesischen Zwillingen aber macht beide Helden ihr kindliches Bedürfnis nach emotionaler Sicherheit. Es ist ganz das Bedürfnis ihres Erfinders gewesen. In einem Liebesbrief an Louise Ottensooser, in der er mehr die Mutter als die Frau verehrte, hat Bove diese Sicherheit als »die höchste Form der Liebe« gefeiert. Im Übrigen hat Bove aus der Verwandtschaft seines Lebens mit seinen Figuren kein Hehl gemacht. Drei Jahre vor seinem Tod veröffentlichte er in »La Marseillaise d’Alger« vier patriotische Kurzgeschichten, darunter »Bomben für die Narren«, unter einem Pseudonym. Das Pseudonym hieß – Victor Bâton.
 

Erstveröffentlichung in »Der Spiegel« 50/1982 und in Harald Wieser: »Von Masken und Menschen« Band 1: Portraits und Polemiken. Zürich: Haffmans Verlag 1991

Harald Wieser war Mitherausgeber des »Kursbuch«, »Spiegel«-Redakteur und »Stern«-Reporter. Gemeinsam mit Jürgen Ritte: Peter Ustinov »Achtung! Vorurteile«

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